- INTERVIEW
Interview mit Die Presse
Interview mit Luis de Guindos, dem Vizepräsidenten der EZB, geführt von Jakob Zirm am 28. April 2025
3. Mai 2025
Die Presse: Seit Juni 2024 hat die EZB die Zinssätze bereits sieben Mal gesenkt. Wie lange wird diese Phase der Zinssenkungen noch andauern?
Luis de Guindos: Das hängt davon ab, wie sich die Inflation entwickelt. Hier können wir aber optimistisch sein. Ab dem Jahresende wird die Inflation laut unseren letzten Prognosen sehr nahe an unserem Zielwert von zwei Prozent liegen. Außerdem lassen derzeit drei zusätzliche Faktoren die Inflation weiter zurückgehen. Erstens hat der Euro aufgewertet. Zweitens sinken die Energie- und Rohstoffpreise. Und drittens könnte die aktuelle wirtschaftliche Unsicherheit über Handelszölle zu mehr Lohnzurückhaltung führen, die also die jüngsten Umfragewerte noch übertrifft. All das würde die Inflation weiter dämpfen. Und das wird ausschlaggebend dafür sein, ob wir die Zinsen weiter senken.
Wo liegt laut Ihrer Sicht der neutrale Zinssatz, also jener Wert, bei dem die Wirtschaft weder befeuert noch gedämpft wird? Gibt es diesen Zielwert für die EZB?
Die Diskussion um die neutrale Rate ist akademisch sehr interessant, für geldpolitische Entscheidungen aber wenig hilfreich. Denn die neutrale Rate ist nicht direkt beobachtbar. Unsere Entscheidungen beruhen vielmehr auf der Entwicklung der Inflation, unseren Projektionen und darauf, wie unsere Geldpolitik auf die Realwirtschaft durchschlägt. Und wir sind, wie gesagt, optimistisch, dass wir unser Inflationsziel nachhaltig erreichen werden.
Die US-Notenbank Fed senkt die Zinsen deutlich langsamer als die EZB. Ist die große Zinsdifferenz zwischen den USA und der Eurozone problematisch?
Die Situation in den USA und Europa ist unterschiedlich. Man sollte nicht nur auf die nominalen Zinsen schauen, sondern auch auf die realen Zinsen. In den USA sind Inflation und Inflationserwartungen höher als in Europa, denn die Aussichten für die US-Wirtschaft sind anders. Der Zinsunterschied ist daher real betrachtet kleiner. Die Inflation ist in den USA zudem hartnäckiger.
Wir haben Spielraum, was unsere eigene Geldpolitik betrifft, beobachten aber natürlich, was in den USA passiert.
2022 hat der Euro nach den um ein halbes Jahr früheren Zinserhöhungen der Fed massiv an Wert verloren. Besteht ein ähnliches Risiko jetzt wieder?
Im Moment nicht unbedingt. Trotz aller Unsicherheiten und entgegen den Erwartungen hat der Euro nach den Zollankündigungen aufgewertet. Wechselkursentwicklungen hängen von vielen Faktoren ab. Wir verfolgen kein Wechselkursziel, beobachten den Wechselkurs aber genau. Er ist eine wichtige volkswirtschaftliche Größe, wenn wir die Risiken für die Preisstabilität bewerten.
Entscheidend ist, die Wechselkursvolatilität gering zu halten.
Aber wenn sich der Trend umkehrt und der Dollar wieder deutlich stärker wird – könnte das die Inflation in der Eurozone wieder anheizen?
Wir beobachten die Wechselkursentwicklung genau. Derzeit gibt es allerdings keine Anzeichen für eine Schwächung des Euro. Viel wird davon abhängen, wie sich der aktuelle Zollstreit entwickelt.
Die Inflation liegt jetzt im Durchschnitt der Eurozone bei 2,2 Prozent. Manche osteuropäischen Länder haben aber nach wie vor drei oder vier Prozent Teuerung. Ist die Inflation wirklich überall im Euroraum gebändigt?
Unterschiede in der Inflationsentwicklung zwischen den Ländern sind normal, entscheidend ist der Durchschnitt. Unsere Projektionen zeigen, dass sowohl die Gesamtinflation als auch die Kerninflation auf unser Ziel von zwei Prozent zusteuern. Besonders genau beobachten wir dabei die Dienstleistungsinflation, die stark von Löhnen beeinflusst wird. Hier zeichnet sich ebenfalls eine Verlangsamung der Lohndynamik ab.
Kommen wir zum Thema Wachstum. Im März prognostizierte die EZB noch ein BIP-Wachstum von 0,9 Prozent für die Eurozone für 2025. Ist das angesichts der Zolldebatte noch realistisch?
Sie haben Recht – diese Prognose erschien vor der Ankündigung der US-Zölle. Die Unsicherheit seither belastet die Konjunktur und dürfte Investitionen und Konsum verzögern. Denn Unsicherheit ist für die Wirtschaft immer schlecht. Bereits in unseren März-Projektionen haben wir auf solche Abwärtsrisiken hingewiesen. Die Risiken werden nun schlagend.
In Österreich haben wir das dritte Rezessionsjahr in Folge. Könnte auch die gesamte Eurozone in eine Rezession rutschen?
Nein, unser Basisszenario geht weiterhin von sehr niedrigem, aber positivem Wachstum aus – klar unter dem Potenzialwachstum. Aber ich glaube nicht, dass der Euroraum in eine Rezession fällt.
Die US-Zölle sind derzeit ausgesetzt. Wie groß wäre der Schaden, wenn es zu einer Eskalation im Handelskrieg kommt?
Ein umfassender Handelskrieg hätte äußerst gravierende Auswirkungen auf das Wachstum. Ich hoffe daher sehr, dass es nicht dazu kommt. Wichtig ist auch zu berücksichtigen, dass Umlenkungseffekte bei Handelsströmen auftreten können, was die Folgen schwer abschätzbar macht.
US-Präsident Donald Trump hat zuletzt massiv die Fed und ihren Präsidenten Jerome Powell angegriffen. Welche Konsequenzen hat ein solcher Versuch der politischen Einflussnahme auf die Arbeit der Zentralbanken?
Die Unabhängigkeit der Zentralbanken ist von entscheidender Bedeutung. Sie ist der Schlüssel für ihre Glaubwürdigkeit und somit für die Inflationsbekämpfung. Selbst als die Inflation vor zwei Jahren extrem hoch war, blieben die Inflationserwartungen in Europa verankert, weil die Zentralbank als unabhängig und glaubwürdig galt. Diese Glaubwürdigkeit ist essenziell, damit die Inflationserwartungen nicht außer Kontrolle geraten und insbesondere Lohn-Preis-Spiralen vermieden werden.
Es gab auch die Diskussion, ob die Bedeutung des Euro als Reservewährung zunehmen könnte, wenn das Vertrauen in den US-Dollar abnimmt. Sehen Sie diese Möglichkeit?
Der Dollar ist die unangefochtene Nummer eins unter den Reservewährungen. Der internationale Stellenwert des Euro ist im Vergleich deutlich geringer. Aber die zukünftige Entwicklung hängt von uns ab: Wenn Europa stärkere Kapitalmärkte aufbaut und sich als echter Binnenmarkt etabliert, könnte der Euro auf internationaler Ebene eine wichtigere Rolle einnehmen. Eine engere Integration und ein stärker proeuropäischer Ansatz wären dafür entscheidend.
Was wäre notwendig, um eine echte europäische Kapitalmarktunion zu schaffen?
Hier gibt es drei zentrale Pfeiler. Erstens brauchen wir einen echten Binnenmarkt – Hindernisse, darunter nationale Rechtsvorschriften, die der weiteren Integration entgegenstehen, müssen beseitigt werden. Zweitens müssen wir die Bankenunion vollenden: Wir haben bereits eine einheitliche Aufsicht und Abwicklungsbehörde, aber uns fehlt noch ein gemeinsames Einlagensicherungssystem. Drittens müssen wir die Kapitalmarktunion an sich weiterentwickeln. Alle drei Elemente hängen zusammen – Fortschritte in einem Bereich sind ohne Fortschritte in den beiden anderen schwer möglich.
Viele befürworten die Kapitalmarktunion, aber es passiert wenig. Wer blockiert sie?
Das Problem ist, dass ohne echten Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen auch die Kapitalmarktunion schwer umzusetzen ist. Die Bankenunion ist weiter fortgeschritten, aber auch hier fehlt noch einiges. Kapitalströme folgen der Realwirtschaft – deshalb brauchen wir integrierte Güter- und Dienstleistungsmärkte.
Hilft es in dieser Situation, wenn nationale Regierungen grenzüberschreitende Bankfusionen blockieren – wie derzeit in Deutschland, wo UniCredit die Commerzbank kaufen möchte?
Konkrete Fusionen kommentiere ich nicht. Aber generell befürworten wir grenzüberschreitende Fusionen, weil sie notwendig sind, um wirklich europäische Banken zu schaffen und die Bankenunion zu vollenden.
Gibt es zu viel Nationalismus im europäischen Finanzsystem?
Manchmal stehen nationale Interessen zu sehr im Vordergrund. Aber das Bewusstsein wächst, dass Europa eigenständiger werden muss. Und der einzige Weg, um auf der Weltbühne relevant zu bleiben, ist, mehr in europäischen und ein bisschen weniger in einzelstaatlichen Dimensionen zu denken.
Die Europäische Kommission treibt nun auch eine Vereinfachung der europäischen Regulierung voran. Das betrifft natürlich auch den Finanzmarkt. Wo sollte das Wirtschaften für die Unternehmen einfacher werden?
Die EZB hat dazu eine eigene hochrangige Taskforce eingerichtet, die ich koordiniere. Sie soll bis Jahresende Vorschläge erarbeiten, die dann dem Gesetzgeber vorgelegt werden. Dabei kann es beispielsweise um die Umsetzung von Basel III oder das Meldewesen gehen, das effizienter gestaltet werden könnte, oder um die Vereinfachung der Kapitalstruktur von Banken, damit diese für Investoren klarer und verständlicher wird. Wichtig ist dabei jedoch: Vereinfachung bedeutet nicht Deregulierung, sie sollte die Solvenz der Banken also nicht gefährden.
Während der Hochinflationsphase haben viele Eurostaaten ihre Schulden stark erhöht, die EZB hat dabei viele Staatsanleihen angekauft – bei manchen Ländern gut 30 Prozent des ausständigen Volumens. Ist das ein Problem?
Im Kontext der Pandemie waren diese Maßnahmen notwendig. Jetzt müssen wir aber gleichzeitig die Verteidigungsausgaben erhöhen und die fiskalische Nachhaltigkeit bewahren, um steigende Marktzinsen und somit einen Rückgang der privaten Investitionen zu vermeiden. Das wird nicht einfach.
Die Oesterreichische Nationalbank meldete in den vergangenen zwei Jahren Verluste von über zwei Milliarden Euro pro Jahr. Grund waren die angekauften, niedrig verzinsten Staatsanleihen. Ist das der versteckte Preis der expansiven Geldpolitik?
Unsere Geldpolitik orientiert sich nicht an der Gewinn- und Verlustrechnung der Notenbanken. Rückblickend haben die Zentralbanken in den letzten zehn Jahren erhebliche Gewinne erzielt. Der aktuelle Verlust ist eine Folge der hohen Liquidität am Markt, für die die Zentralbanken höhere Zinsen zahlen müssen. Diese Liquidität wird jetzt aber zügig abgebaut. In Zukunft wird sich die Situation verbessern.
Gefährden die hohen Schuldenstände der Eurostaaten das zukünftige Wachstum?
Wenn die Märkte an der Nachhaltigkeit der öffentlichen Schulden zweifeln, steigen die Marktzinsen, was private Investitionen reduzieren kann. Deshalb ist eine glaubwürdige und nachhaltige Fiskalpolitik entscheidend.
Europäische Zentralbank
Generaldirektion Kommunikation
- Sonnemannstraße 20
- 60314 Frankfurt am Main, Deutschland
- +49 69 1344 7455
- media@ecb.europa.eu
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
Ansprechpartner für Medienvertreter