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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
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Entscheidungen in unsteten Zeiten

Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, auf dem jährlichen Economic Policy Symposium „Strukturelle Veränderungen in der Weltwirtschaft“ der Federal Reserve Bank of Kansas City in Jackson Hole

Jackson Hole, 25. August 2023

In den vergangenen drei Jahren waren die Menschen rund um den Globus einer Reihe beispielloser Schocks ausgesetzt, wenn auch in unterschiedlichem Maße.

Wir haben die Pandemie erlebt, während der die Weltwirtschaft teilweise zum Stillstand kam. Wir sind in Europa mit einem Krieg und einer neuen geopolitischen Landschaft konfrontiert, was tiefgreifende Veränderungen an den Energiemärkten und bei den Handelsstrukturen nach sich zieht. Der Klimawandel schreitet schneller voran und zwingt uns somit dazu, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die CO2-Emissionen der Wirtschaft zu verringern.

Eine spürbare Auswirkung der eben beschriebenen Veränderungen ist, dass nun weltweit eine hohe Inflation herrscht, unter der viele leiden. Die Zentralbanken haben darauf mit einer Straffung der Geldpolitik reagiert. Es werden zwar Fortschritte erzielt, doch der Kampf gegen die Inflation ist noch nicht gewonnen.

Diese Umbrüche könnten aber auch auf längere Sicht tiefgreifende Folgen haben. Es gibt plausible Szenarien, wonach sich globale Wirkungszusammenhänge in der Wirtschaft von Grund auf ändern könnten. Anders gesagt: Vielleicht stehen wir vor einem Zeitalter, in dem sich wirtschaftliche Zusammenhänge verschieben und bestehende Gesetzmäßigkeiten mit einem Mal nicht mehr gelten. Dies stellt politische Entscheidungsträger mit Stabilitätsmandat vor eine gewaltige Herausforderung.

Denn wir versuchen, uns mithilfe altbewährter Gesetzmäßigkeiten ein Bild davon zu machen, wie die wahrscheinlich auf uns zukommenden Schocks verteilt sein werden, wie sie sich auf die Wirtschaft auswirken dürften und mit welchen Maßnahmen ihnen am besten beizukommen ist. Es könnte aber sein, dass früher geltende Gesetzmäßigkeiten in einem neuen Zeitalter kein guter Ratgeber für das Funktionieren der Wirtschaft sind.

Wie können wir also Stabilität gewährleisten?

Folgendes Zitat des Philosophen Søren Kierkegaard scheint mir unsere aktuelle Herausforderung treffend zu beschreiben: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es aber vorwärts.“

Da unsere Maßnahmen ihre Wirkung mit zeitlicher Verzögerung entfalten, können wir nicht erst dann aktiv werden, wenn die Parameter des neuen Umfelds vollends bekannt sind. Wir müssen eine Vorstellung von der Zukunft entwickeln und vorausschauend handeln. Allerdings werden wir die Auswirkungen unserer Entscheidungen erst im Nachhinein voll und ganz verstehen können. Deshalb brauchen wir neue Rahmenwerke, die darauf ausgerichtet sind, solide Entscheidungen in unsteten Zeiten zu treffen.

In meiner heutigen Rede werde ich darlegen, welche drei großen Veränderungen das aktuelle Umfeld prägen. Danach werde ich aufzeigen, wie sie die Art der uns betreffenden Schocks sowie deren Niederschlag in der Wirtschaft verändern könnten. Anschließend werde ich auf die drei Schlüsselelemente eingehen, die für eine gute Entscheidungsfindung in einem solchen Umfeld gefragt sind: Klarheit, Flexibilität und Demut.

Veränderungen in der Weltwirtschaft

Seit der Pandemie kam es in den Volkswirtschaften in Europa und weltweit zu drei Umbrüchen, durch die sich die globalen Märkte verändern und die unterschiedlich schnell Wirkung zeigen.

Erstens verändern sich die Arbeitsmärkte und die Arbeitswelt grundlegend.

In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist die Lage am Arbeitsmarkt im historischen Vergleich angespannt. Dies ist nicht allein der starken Nachfrage nach Arbeitskräften nach der Pandemie geschuldet: In einigen Ländern sind Arbeitskräfte, die den Arbeitsmarkt verlassen hatten, nicht in vollem Umfang zurückgekehrt – teils krankheitsbedingt, teils auf eigenen Wunsch.[1] Andernorts, etwa im Euroraum, ist die Beschäftigungslage so gut wie nie, die Menschen leisten aber durchschnittlich weniger Arbeitsstunden.[2]

Die Pandemie hat auch die Digitalisierung beschleunigt,[3] was sich vermutlich sowohl auf das Arbeitskräfteangebot als auch auf die Beschäftigungsstruktur auswirken wird. Die Telearbeit hat zugenommen,[4] wodurch sich die Elastizität des Arbeitskräfteangebots erhöht haben dürfte. Hinzu kommt nun noch die Revolution durch generative KI, die – wie alle technologischen Revolutionen – dazu führen dürfte, dass Stellen vernichtet und neue Stellen geschaffen werden.

Einer Schätzung zufolge sind bei über einem Viertel der Stellen in fortgeschrittenen Volkswirtschaften leicht automatisierbare Fertigkeiten gefragt.[5] Eine Studie der EZB hat aber auch ergeben, dass der Beschäftigungsanteil in Berufen, die stärker von KI betroffen sind, in den meisten europäischen Ländern in den letzten zehn Jahren gestiegen ist. Sie widerlegt somit die These, dass die KI-Revolution zwingend zu einem Beschäftigungsrückgang führen wird.[6]

Zweitens befinden wir uns inmitten einer Energiewende. Zusammen mit dem sich beschleunigenden Klimawandel wird sie tiefgreifende Veränderungen an den globalen Energiemärkten auslösen.

In Europa war der Energieschock zwar am größten, aber auch auf globaler Ebene ist der Energiemix in Bewegung, weil Anbieter, die am Markt zuvor für Ausgleich gesorgt hatten, sich nun aus ihm zurückziehen. Seit einigen Jahren setzt der US-amerikanische Schieferölsektor auf eine langsamere Wachstumsstrategie und investiert weniger in Förderkapazitäten. Und die OPEC-+-Staaten bleiben kontinuierlich unter ihren Förderzielen.

Gleichzeitig verstärken alle Länder ihre Bemühungen in Richtung erneuerbare Energien, weil erneut Sorgen über die Sicherheit der Energieversorgung aufkommen und da an Klimaschutzmaßnahmen kein Weg vorbei führt.[7] Die EU strebt nun an, bis 2030 über 40 % der Energie aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen. Die USA sind auf gutem Weg, ihren Strom bis 2050 größtenteils mit Sonnen- und Windkraft zu erzeugen.[8]

Drittens wächst die geopolitische Kluft, und die Weltwirtschaft zerfällt in konkurrierende Blöcke. Damit einher geht ein zunehmender Protektionismus, da die Länder ihre Lieferketten im Einklang mit ihren neuen strategischen Zielen umbauen.

In der letzten Dekade hat sich die Zahl der Handelsbeschränkungen verzehnfacht.[9] Gleichzeitig sind auf Reshoring und Friendshoring abzielende industrielle Maßnahmen stark auf dem Vormarsch. Dies hat bislang zwar nicht zur Entglobalisierung geführt, es deutet aber immer mehr darauf hin, dass sich die Handelsstrukturen verändern.[10] Die durch die Pandemie offenbarte Anfälligkeit globaler Lieferketten hat diesen Prozess zusätzlich beschleunigt.[11]

All diese Umbrüche – insbesondere jene, die die Zeit nach der Pandemie und das Thema Energie betreffen – haben zum starken Anstieg der Inflation in den letzten beiden Jahren beigetragen. Sie haben das Gesamtangebot eingeschränkt und gleichzeitig die Nachfrage in Sektoren mit Kapazitätsengpässen gelenkt.[12] Dieses Missverhältnis entstand, zumindest anfänglich, vor dem Hintergrund höchst expansiver makroökonomischer Maßnahmen, mit denen die Auswirkungen der Pandemie abgefedert werden sollten. Daher mussten die Zentralbanken ihren geldpolitischen Kurs rasch korrigieren.

Ob all diese Veränderungen von Dauer sein werden, kann derzeit niemand mit Sicherheit sagen. In vielen Fällen zeigt sich allerdings schon heute, dass die Auswirkungen langlebiger sind als zunächst gedacht. Daraus ergeben sich zwei wichtige Fragen zur Art zentraler wirtschaftlicher Zusammenhänge.

Zwei Fragen zu zentralen wirtschaftlichen Zusammenhängen

Die erste Frage lautet, ob sich die Schocks, die konjunkturelle Schwankungen auslösen, verändern werden.

Vor der Pandemie gingen wir allgemein davon aus, dass die Wirtschaft sich entlang eines stetig steigenden Potenzialwachstumspfads entwickelt, wobei Schwankungen vor allem das Ergebnis der zu- und abnehmenden Nachfrage des privaten Sektors sind. Aber dieses Modell hat möglicherweise ausgedient.

Zunächst einmal dürften künftig mehr Schocks von der Angebotsseite ausgehen.[13]

Wir sehen bereits jetzt, welche Folgen ein sich beschleunigender Klimawandel hat. Künftig dürften wir es daher wohl häufiger mit Angebotsschocks zu tun bekommen. Schätzungen zufolge sind mehr als 70 % der Unternehmen im Euroraum von mindestens einer Ökosystem-Dienstleistung abhängig.[14] Durch die Umschichtung beim globalen Energiemix dürften auch Ausmaß und Häufigkeit von Angebotsschocks im Energiesektor zunehmen. Dabei wird die Elastizität des Öl- und des Gaspreises nachlassen,[15] während erneuerbare Energien weiterhin mit Schwankungen bei der Einspeisung und mit Speicherungsproblemen kämpfen werden.

Auch Reshoring und Friendshoring dürften mit neuen Angebotsengpässen verbunden sein, vor allem wenn sich die Fragmentierung des Handels beschleunigt, bevor die binnenwirtschaftliche Versorgungsgrundlage wiederhergestellt ist. Eine Untersuchung der EZB kommt zu dem Ergebnis, dass in einem Szenario, das die Fragmentierung des Welthandels entlang geopolitischer Linien unterstellt, die realen Einfuhren weltweit um bis zu 30 % einbrechen könnten. Dies könnte ein stärkerer Handel innerhalb der Blöcke nicht vollends ausgleichen, so die Studie.[16]

Gleichzeitig kann unsere höhere Anfälligkeit für diese Schocks politische Maßnahmen auslösen, die sich ebenfalls auf die Wirtschaft auswirken. Vor allem wird es wahrscheinlich zu einer Phase vorgezogener Investitionen kommen. Diese wird weitgehend konjunkturunabhängig sein, weil der Investitionsbedarf dringend ist und weil der öffentliche Sektor entscheidend dazu beitragen wird, diesen Bedarf herbeizuführen.

Für die Energiewende werden beispielsweise in der EU binnen recht kurzer Zeit massive Investitionen erforderlich sein: im Schnitt rund 600 Mrd. € jährlich bis 2030.[17] Die weltweiten Investitionen in den digitalen Wandel dürften sich bis 2026 mehr als verdoppeln.[18] Ferner müssen aufgrund der neuen geopolitischen Landschaft die Verteidigungsausgaben deutlich aufgestockt werden: In der EU werden jährlich rund 60 Mrd. € benötigt, damit das NATO-Ziel, 2 % des BIP für Verteidigung auszugeben, erreicht wird.[19] Selbst wenn CO2-intensives Kapital schneller abgeschrieben wird,[20] dürfte all dies unter dem Strich höhere Investitionen bewirken.

Durch eine solche Phase mit höherem strukturellen Investitionsbedarf lassen sich die wirtschaftlichen Aussichten schlechter interpretieren. Im Euroraum etwa sind die Investitionen im ersten Quartal 2023 gestiegen, während die Wirtschaftsleistung stagnierte. Dies lag teilweise an bereits geplanten Investitionsausgaben im Rahmen des Programms „Next Generation EU“.

Bei der zweiten Frage geht es darum, wie sich diese Schocks in der Wirtschaft niederschlagen.

Im neuen Umfeld werden die Schocks bei den relativen Preisen vermutlich größer ausfallen, als wir aus der Zeit vor der Pandemie gewohnt sind. Sollte es zu einem höheren Investitionsbedarf und auch zu größeren Angebotsverknappungen kommen, dürften der Preisdruck z. B. an den Rohstoffmärkten zunehmen. Dies gilt dann insbesondere für Metalle und Mineralien, die für grüne Technologien dringend gebraucht werden.[21] Auch bei den relativen Preisen wird eine Anpassung stattfinden müssen, damit sichergestellt ist, dass Ressourcen aus schrumpfenden Wirtschaftszweigen abgezogen werden und stattdessen in Wachstumsbranchen fließen.[22]

Werden Ressourcen in großem Stil umverteilt, so kann dies zu Preissteigerungen in Wachstumsbranchen führen, die durch Preisrückgänge in schrumpfenden Wirtschaftszweigen nicht vollends ausgeglichen werden können. Grund hierfür sind die nach unten starren Nominallöhne.[23] Die Zentralbanken werden also während dieser Anpassung bei den relativen Preisen dafür sorgen müssen, dass die Inflationserwartungen fest verankert bleiben.

Diese Aufgabe könnte sich künftig noch komplexer gestalten. Grund hierfür sind Veränderungen im Lohn- und Preissetzungsverhalten, die seit der Pandemie zu beobachten sind.

Erstens haben die Unternehmen angesichts des deutlichen Ungleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage ihre Preisstrategien angepasst. In den vergangenen Jahrzehnten mit geringer Inflation hatten Unternehmen, die mit steigenden relativen Preisen konfrontiert waren, häufig Sorge, dass Preiserhöhungen zum Verlust von Marktanteilen führen.[24] Doch dies änderte sich mit der Pandemie, als die Unternehmen allesamt von schweren Schocks getroffen wurden. Letztere fungierten in gewisser Weise als Koordinationsmechanismus zwischen konkurrierenden Unternehmen.

Vor diesem Hintergrund konnten wir beobachten, dass Unternehmen nicht nur weniger vor Preisanhebungen zurückschrecken, sondern die Preise auch kräftiger erhöhen.[25] Dies ist einer der Hauptgründe, warum es im Euroraum in einigen Branchen in den letzten beiden Jahren nahezu doppelt so viele Preisanpassungen gab wie vor 2022.[26]

Die zweite Veränderung besteht im angespannten Arbeitsmarkt. Dank ihm sind Beschäftigte nun in einer stärkeren Position, um Verluste bei den Reallöhnen wettzumachen. Früher gab es am Arbeitsmarkt zumeist Überkapazitäten. Daher war das Risiko von Zweitrundeneffekten selbst dann begrenzt, wenn die Schocks auf die Preise durchschlugen.[27] Wie wir nun jedoch angesichts der stärkeren Verhandlungsposition der Arbeitskräfte beobachten können, kann ein Inflationsanstieg Nachholeffekte bei den Löhnen auslösen, was wiederum zu einem persistenteren Inflationsprozess führen kann.[28]

Sicherlich können wir nicht ausschließen, dass beide Entwicklungen von vorübergehender Natur sind. Im Euroraum gibt es bereits jetzt Anzeichen dafür, dass Unternehmen ihre Preise trotz sinkender Preise für Strom und Vorleistungen seltener ändern.[29] Möglicherweise entspannt sich die Lage am Arbeitsmarkt wieder, wenn sich die Konjunktur abkühlt, sich das pandemiebedingte Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage verringert und die Digitalisierung ein höheres Arbeitskräfteangebot bewirkt, auch indem sie zu niedrigeren Markteintrittsbarrieren führt.[30]

Wir müssen uns jedoch darüber im Klaren sein, dass einige dieser Veränderungen uns länger begleiten könnten. Verringert sich die Elastizität des weltweiten Angebots, auch am Arbeitsmarkt,[31] und lässt der globale Wettbewerb nach, dann dürften die Preise bei der Anpassung eine größere Rolle spielen. Kommt es außerdem zu größeren Schocks und treten diese immer häufiger auf – beispielsweise bei Energie[32] oder auf geopolitischer Ebene – so könnte es sein, dass die Unternehmen ihre höheren Kosten konsequenter weiterreichen.

Unter diesen Umständen müssen wir ausgesprochen wachsam sein, damit sich die größere Volatilität bei den relativen Preisen nicht über wiederholt an Preissteigerungen angepasste Löhne in die mittelfristige Inflation einschleicht. Denn die Inflation könnte sich hartnäckiger halten, wenn erwartete Lohnzuwächse in die Preisgestaltung von Unternehmen einfließen und somit nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ die Inflation in die Höhe treiben.[33]

Solide Entscheidungen in unsteten Zeiten

Wir leben in unsteten Zeiten und können noch nicht absehen, ob wir eines Tages in unsere alte Welt zurückkehren oder ein neues Zeitalter anbricht. Wie können wir angesichts dessen sicherstellen, dass wir weiterhin solide Entscheidungen treffen?

Meiner Meinung nach sind hier drei Schlüsselelemente entscheidend, nämlich Klarheit, Flexibilität und Demut.

Erstens müssen wir für Klarheit hinsichtlich unseres Ziels sorgen. Und deutlich machen, dass wir fest entschlossen sind, es zu erreichen.

Klarheit wird wichtig sein, um die Rolle der Geldpolitik in der derzeitigen Übergangsphase richtig zu bestimmen. Es muss klar sein, dass Preisstabilität ein Grundpfeiler eines investitionsfreundlichen Umfelds ist. Angesichts einer Welt im Wandel darf die Geldpolitik nicht selbst zu einer Quelle der Ungewissheit werden.

Dies wird essenziell sein, damit die Inflationserwartungen fest verankert bleiben – selbst bei temporären Abweichungen von unserem Zielwert, zu denen es in einer schockanfälligeren Wirtschaft kommen kann. Es wird auch von entscheidender Bedeutung dafür sein, dass die Menschen weiterhin wissen, dass wir auch in einem neuen Umfeld unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen und werden die Inflation mittelfristig bei 2 % halten.

Um unsere Ziele erreichen zu können, müssen wir bei unserer Analyse flexibel sein.

In einer von Ungewissheit geprägten Wirtschaft können unsere Maßnahmen nicht auf simplen Regeln oder Zwischenzielen basieren.[34] Wir können uns also nicht nur auf Modelle stützen, deren Schätzungen auf alten Daten basieren, und versuchen, unseren Maßnahmen anhand von Punktprognosen den letzten Schliff zu geben. Wir dürfen uns aber auch nicht dazu verleiten lassen, den Blick zu sehr auf aktuelle Daten und in die Vergangenheit zu richten, denn dann wäre unsere Geldpolitik vermutlich eher reaktiv als stabilisierend.

Vielmehr gilt es, Rahmenwerke auszuarbeiten, die die Komplexität um uns abbilden und Schutz vor ihr bieten. Diese Arbeit haben die Zentralbanken bereits aufgenommen. Die EZB etwa macht ihre künftigen Entscheidungen von drei Kriterien abhängig: den Inflationsaussichten, der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation und der Stärke der geldpolitischen Transmission.

Diese drei Kriterien tragen dazu bei, die Unsicherheit rund um die mittelfristigen Aussichten zu verringern, denn sie sind ein Mix aus den Inflationsprojektionen unserer Fachleute, dem aus der zugrunde liegenden Inflation erkennbaren Trend und der Wirksamkeit unserer Maßnahmen bei der Bekämpfung dieses Trends. Mit Blick auf die Zukunft gehe ich davon aus, dass die Kalibrierung wirksamer geldpolitischer Maßnahmen einen solch mehrgliedrigen Ansatz erfordern wird. Wir werden diesen Prozess aber auch verbessern müssen, indem wir unsere Modelle und Prognosetechniken[35] regelmäßig aktualisieren und jene Variablen ausgiebiger analysieren, die sich am besten als Frühindikatoren eignen.[36]

Das dritte entscheidende Element in diesem neuen Umfeld ist Demut. Zwar müssen wir weiterhin versuchen, uns ein möglichst genaues Bild von der mittleren Frist zu machen. Es muss uns aber auch bewusst sein, dass unser Wissen und die Wirkungskraft unserer Maßnahmen begrenzt sind. Wenn uns die Menschen weiterhin Vertrauen schenken sollen, dann müssen wir so über die Zukunft sprechen, dass die gegenwärtigen Unsicherheiten besser zum Ausdruck kommen.

In unserem Prognoseprozess haben wir diesen Weg bereits eingeschlagen, sind aber noch nicht am Ziel. Wir haben Sensitivitätsanalysen zu zentralen Variablen wie den Energiepreisen und Löhnen veröffentlicht. Zudem haben wir während der Pandemie und nach Ausbruch des Ukrainekriegs Szenarioanalysen verwendet. Etwaige Prognosefehler wollen wir außerdem transparenter kommunizieren.

Studien legen nahe, dass Menschen Zentralbankprognosen weniger vertrauen, wenn deren Prognosesicherheit zuletzt zu wünschen übrig ließ.[37] Hier können wir Abhilfe schaffen, indem wir die Unsicherheit von Prognosen thematisieren und Fehler besser erklären. Daher haben die Fachleute der EZB damit begonnen, die wichtigsten Faktoren zu veröffentlichen, die zu Fehlern bei unseren Inflationsprognosen führten. An dieser Vorgehensweise möchten wir künftig festhalten.[38]

Schlussfolgerung

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

Für die Situation, in der wir uns aktuell befinden, gibt es keinen vorgefertigten Fahrplan. Daher ist es an uns, einen neuen zu entwerfen.

Entscheidungen in unsteten Zeiten bedürfen Aufgeschlossenheit und der Bereitschaft, unseren Analyserahmen in Echtzeit an neue Entwicklungen anzupassen. In dieser ungewissen Zeit ist es aber noch wichtiger, dass Zentralbanken der Wirtschaft einen nominalen Anker bereitstellen und im Einklang mit ihrem jeweiligen Mandat stabile Preise gewährleisten.

Im derzeitigen Umfeld bedeutet dies für die EZB, dass sie die Leitzinsen so lange wie erforderlich auf ein ausreichend restriktives Niveau festlegen muss, um eine zeitnahe Rückkehr der Inflation zum mittelfristigen 2 %-Ziel zu erreichen.

Was die Zukunft betrifft, müssen wir im Hinblick auf unser Ziel klar bleiben, bei unserer Analyse flexibel sein und bei unserer Kommunikation Demut beweisen. Um es mit den Worten Maynard Keynes zu sagen: „Die Schwierigkeit ist nicht neue Ideen zu finden, sondern die alten über Bord zu werfen.“

  1. Dieser Effekt machte sich in den Vereinigten Staaten stärker bemerkbar als in den Ländern des Euroraums. Siehe V. Botelho und M. Weißler, Die Covid-19-Pandemie und Ruhestandsentscheidungen älterer Arbeitskräfte im Euro-Währungsgebiet, Wirtschaftsbericht 6/2022, EZB, September 2022; M. Faria e Castro und S. Jordan-Wood, Excess Retirements Continue despite Ebbing COVID-19 Pandemic, On The Economy Blog, Federal Reserve Bank of St. Louis, 22. Juni 2023.

  2. Siehe O. Arce, A. Consolo, A. Dias da Silva und M. Mohr, More jobs but less working hours, Der EZB-Blog, 7. Juni 2023.

  3. Siehe F. Jaumotte et al., Digitalization During the COVID-19 Crisis: Implications for Productivity and Labor Markets in Advanced Economies, Staff Discussion Notes, Nr. 2023/003, IWF, 13. März 2023. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt und andere Aspekte der Wirtschaft werden auch beschrieben in L. Dedola et al., Digitalisation and the economy, Working Paper Series der EZB, Nr. 2809, April 2023.

  4. Siehe A. Dias da Silva et al., Wie wollen die Menschen arbeiten? Präferenzen für die Telearbeit nach dem Ende der Pandemie, Wirtschaftsbericht 1/2023, EZB, Februar 2023.

  5. Siehe OECD, Employment Outlook 2023, 2023.

  6. Siehe S. Albanesi et al., New technologies and jobs in Europe, Working Paper Series der EZB, Nr. 2831, Juli 2023.

  7. Siehe auch J. Breckenfelder et al., The climate and the economy, Working Paper Series der EZB, Nr. 2793, März 2023.

  8. Siehe US Energy Information Administration, Annual Energy Outlook 2023, 16. März 2023.

  9. Vergleich 2012 gegenüber 2022. Insbesondere Handelsbeschränkungen bei Waren, Investitionen und Dienstleistungen. Die angeführten Daten beziehen sich nur auf die Exporte. Siehe K. Georgieva, Confronting Fragmentation Where It Matters Most: Trade, Debt, and Climate Action, IWF-Blog, 16. Januar 2023.

  10. Siehe L. Alfaro und D. Chor, Global Supply Chains: The Looming ‘Great Reallocation’, Beitrag anlässlich des Jackson Hole Economic Policy Symposium 2023 der Federal Reserve Bank of Kansas City, August 2023.

  11. Siehe L. Lebastard, M. Matani und R. Serafini, GVC exporter performance during the COVID-19 pandemic: the role of supply bottlenecks, Working Paper Series der EZB, Nr. 2766, Januar 2023.

  12. Siehe F. Ferrante, S. Graves und M. Iacoviello, The inflationary effects of sectoral relocation, Journal of Monetary Economics, 2023 (im Erscheinen).

  13. Diese neue Situation weist Ähnlichkeiten mit dem Paradigma der „Real Business Cycle Theory“ (zwischen Ende der 1970er- und 1980er-Jahre) auf, der zufolge Volkswirtschaften ständig gebremst werden, und zwar nicht durch nachfrageseitige Störungen (so wie in den konkurrierenden keynesianischen und monetaristischen Traditionen), sondern durch reale Produktivitätsschocks, die das wirtschaftliche Potenzial beeinträchtigen und Konjunkturschwankungen auslösen. Siehe F. Kydland und E. Prescott, Time to Build and Aggregate Fluctuations, Econometrica, Bd. 50, Nr. 6, November 1982, S. 1345-1370.

  14. Zu den Beispielen für Ökosystem-Dienstleistungen zählen Produkte, die wir aus Ökosystemen erhalten wie Nahrungsmittel, Trinkwasser, Holz und Mineralien, der Schutz vor Naturkatastrophen oder die CO2-Aufnahme und -Speicherung durch die Vegetation. Siehe F. Elderson, The economy and banks need nature to survive, Der EZB-Blog, 8. Juni 2023.

  15. Siehe N. Balke, X. Jin und M. Yücel, The Shale Revolution and the Dynamics of the Oil Market, Working Papers, Nr. 2021, Federal Reserve Bank of Dallas, Juni 2020.

  16. Siehe M.-G. Attinasi, L. Boeckelmann und B. Meunier, The economic costs of supply chain decoupling, Working Paper Series der EZB, Nr. 2839, August 2023.

  17. Siehe Europäische Kommission, Strategische Vorausschau 2023, Juli 2023.

  18. Siehe International Data Corporation, IDC Spending Guide Sees Worldwide Digital Transformation Investments Reaching $3.4 Trillion in 2026, 26. Oktober 2022.

  19. Siehe Daten der NATO. In dieser Zahl sind die vier nicht der NATO angehörenden EU-Mitgliedstaaten (Irland, Zypern, Österreich und Malta) nicht berücksichtigt.

  20. Siehe IWF, Near-Term Macroeconomic Impact of Decarbonization Policies, World Economic Outlook, Oktober 2022; für eine Quantifizierung der Auswirkungen von CO2-Steuern auf private Investitionen siehe C. Brand et al., Die makroökonomischen Implikationen des Übergangs zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft, Wirtschaftsbericht 5/2023, EZB, August 2023.

  21. Der Internationalen Energieagentur zufolge würde eine konzertierte Anstrengung zur Erreichung der Ziele des Pariser Klimaabkommens bedeuten, dass sich der Bedarf an Mineralien für saubere Energietechnologien bis 2040 vervierfachen würde. Siehe IEA, The Role of Critical Minerals in Clean Energy Transitions, Mai 2021.

  22. Zusätzlich zu den oben beschriebenen Auswirkungen der künstlichen Intelligenz und der Digitalisierung könnte der Übergang zu Netto-Null-CO2-Emissionen bis 2050 zu rund 200 Millionen neuen Arbeitsplätzen und einem Wegfall von rund 185 Millionen Arbeitsplätzen weltweit führen. Siehe McKinsey, The net-zero transition: What it would cost, what it could bring, Januar 2022.

  23. Siehe J.H.G. Olivera, On Structural Inflation and Latin-American ‘Structuralism’, Oxford Economic Papers, Bd. 16, Nr. 3, November 1964, S. 321-332; V. Guerrieri, G. Lorenzoni, L. Straub und I. Werning, Monetary Policy in Times of Structural Reallocation, Proceedings of the 2021 Jackson Hole Symposium, 2021.

  24. Siehe G. Koester, E. Lis, C. Nickel, C. Osbat und F. Smets, Occasional Paper Series der EZB, Nr. 280, September 2021. Für eine Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Aufschlägen und dem Durchwirken von Schocks siehe O. Kouvavas, C. Osbat, T. Reinelt und I. Vansteenkiste, Markups and inflation cyclicality in the euro area, Working Paper Series der EZB, Nr. 2617, November 2021; für das Durchwirken der Löhne auf die Preise siehe E. Hahn, How are wage developments passed through to prices in the euro area? Evidence from a BVAR model, Applied Economics, Bd. 53, Nr. 22, November 2019, S. 2467-2485; E. Hahn, The wage-price pass-through in the euro area: does the growth regime matter?, Working Paper Series der EZB, Nr. 2485, Oktober 2020; E. Bobeica, M. Ciccarelli und I. Vansteenkiste, The link between labor cost and price inflation in the euro area, Working Paper Series der EZB, Nr. 2235, Februar 2019.

  25. Viele Unternehmen im Euroraum führten 2022 dynamischere Preisstrategien ein und planen, ihre Preise auch 2023 häufiger als üblich zu überprüfen. Siehe C. Elding et al., Wesentliche Erkenntnisse aus dem jüngsten Dialog der EZB mit nichtfinanziellen Unternehmen, Wirtschaftsbericht 1/2023, EZB, Februar 2023.

  26. Siehe A. Cavallo, F. Lippi und K. Miyahara, Inflation and misallocation in New Keynesian models, Beitrag anlässlich des ECB Forum on Central Banking, Sintra, Juni 2023.

  27. Siehe G. Koester et al., 2021, a. a. o. sowie C. Baba und J. Lee, Second-Round Effects of Oil Price Shocks – Implications for Europe’s Inflation Outlook, Working Paper des IWF, Nr. 2022/173, IWF, September 2022.

  28. Siehe C. Lagarde Die Persistenz der Inflation durchbrechen, anlässlich des ECB Forum on Central Banking 2023 zum Thema Macroeconomic stabilisation in a volatile inflation environment in Sintra (Portugal), 27. Juni 2023.

  29. Siehe Banque de France, Monthly business survey – Start of June 2023, 2023.

  30. Durch die Digitalisierung erweitern sich auch die Möglichkeiten, Vorleistungsdienste an aufstrebende Volkswirtschaften auszulagern. Siehe R. Baldwin, Globotics and macroeconomics: Globalisation and automation of the service sector, Beitrag anlässlich des ECB Forum on Central Banking, Sintra, Juni 2022.

  31. Das Arbeitskräfteangebot könnte aufgrund der geopolitischen Fragmentierung (und des damit einhergehenden geringeren Wettbewerbs auf den Arbeitsmärkten), eines möglichen Rückgangs der Migration oder einer weiteren Alterung der Erwerbsbevölkerung abnehmen. Siehe z. B. M. Freier, B. Lichtenauer und J. Schroth, Bevölkerungstrends gemäß EUROPOP2023-Prognosen und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Euroraum , Wirtschaftsbericht 3/2023, EZB, Mai 2023.

  32. Längerfristig könnte der Übergang zu erneuerbaren Energien die Angebotselastizität auf den Energiemärkten erhöhen und die Preise sinken lassen.

  33. Siehe O. Arce, E. Hahn und G. Koester, How tit-for-tat inflation can make everyone poorer, Der EZB-Blog, 30. März 2023; E. Hahn, Gewinne je BIP-Einheit und ihr Beitrag zur jüngsten Zunahme des binnenwirtschaftlichen Preisdrucks im Euroraum, Wirtschaftsbericht 4/2023, EZB, Juni 2023.

  34. Für eine Kritik an diesem Ansatz zur Entscheidungsfindung siehe J. Faust und E. Leeper, The Myth of Normal: The Bumpy Story of Inflation and Monetary Policy, Beitrag anlässlich des Jackson Hole Economic Policy Symposium 2015 der Federal Reserve Bank of Kansas City, August 2015.

  35. Siehe z. B. jüngste Forschung der EZB zur Anwendung von Random-Forest-Prognosen auf die Inflation: M. Lenza, I. Moutachaker und J. Paredes, Density forecasts of inflation: a quantile regression forest approach, Working Paper Series der EZB, Nr. 2830, 2023.

  36. Siehe M. Bańbura et al., Messgrößen der zugrunde liegenden Inflation – ein analytischer Leitfaden für den Euroraum, Wirtschaftsbericht 5/2023, EZB, August 2023.

  37. Siehe M. McMahon und R. Rholes, Building Central Bank Credibility: The Role of Forecast Performance, mimeo, University of Oxford, 2023.

  38. Siehe M. Chahad, A.-C. Hofmann-Drahonsky, B. Meunier, A. Page und M. Tirpák, Erklärungen für die jüngsten Fehler in den Inflationsprojektionen des Eurosystems und der EZB, Wirtschaftsbericht 3/2022, EZB, April 2022; M. Chahad, A.-C. Hofmann-Drahonsky, A. Page und M. Tirpák, Aktualisierte Bewertung der kurzfristigen Inflationsprojektionen des Eurosystems und der EZB, Wirtschaftsbericht 1/2023, EZB, Februar 2023.

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